Der Drache in Südamerika

von Wolfgang Schwerdt


Der Drache in Südamerika

Von Wolfgang Schwerdt

Wenn hier von Südamerika die Rede ist, so bezieht sich dieser Beitrag vor allem auf die Kulturen der nördlichen und zentralen Anden- einschließlich der Küstenregion. Die Amazonasregion mit den zahlreichen Indianerstämmen bleiben hier -so interessant sie auch sind- außen vor. Denn die oben umrissene Region war die einzige, in der sich Stadtstaaten, König- und Kaiserreiche entwickelten und entsprechende archäologische, künstlerische und architektonische Zeugnisse hinterließen. Die schriftlichen Quellen sind übrigens ebenso wie in Mittelamerika mit großer Vorsicht zu interpretieren, handelt es sich hier vor allem um Erzählungen von Einheimischen, die eine europäische Sprache beherrschten oder eben um Berichte von Europäern, also um sehr späte und vor allem "ideologisch gefilterte" Quellen.

Dementsprechend ist die Interpretation von mythologisch durchaus auch aus anderen Kulturen bekannten Symbolen recht problematisch. Denn geht man nicht von einer gewissen evolutionären Kongruenz aller Kulturen aus, so ist die Adaption von scheinbar Bekanntem auf die südamerikanischen Zivilisationen eben auch nicht zulässig. Zumal nicht einmal eine Kulturtransfertheorie entsprechende Vergleiche erlauben dürfte. Denn so viel auch spekuliert worden sein mag, nachdem während der letzten Eiszeit der amerikanische Doppelkontinent von Sibirien kommend erstmals besiedelt wurde und dann -ca. 10000 v. Chr.- der steigende Meeresspiegel Nord- und Südamerika wieder von der restlichen Welt isoliert hatte, sind keine weiteren Einwanderungen mehr nachgewiesen bis zu dem Zeitpunkt, wo die Europäer kamen. Ein Kulturtransfer scheint also weitgehend ausgeschlossen, auch wenn viele Parallelen zu Hochkulturen der Alten Welt und Asiens erkennbar zu sein scheinen.

Ein Indiz dafür, dass es möglicherweise doch kulturelle Einflüsse von Außerhalb gegeben haben könnte, scheint mir allerdings die Tatsache, dass in den bekannten Mythen der Zivilisationen der Andenregionen kaum ein klar erkennbarer Weltschöpfungsmythos zu existieren scheint. Die Existenz der Welt scheint als gegeben akzeptiert zu werden, die mythologischen Schöpfungserklärungen konzentrieren sich vor allem auf die Entstehung der Menschen und ihrer sozialen Organisation. Dabei geht es meist um Sonne und Mond und den Aufstieg des Menschengeschlechtes aus der Unterwelt. Die Schöpfergottheiten wie Viracocha (Inka) und der deutlich ältere Pachacamac waren in erster Linie Wanderer, die die einzelnen Stämme kulturelles Wissen lehrten, das schließlich zum Aufbau der jeweiligen Zivilisation führte.

Nun heißt dies nicht, dass die Kulturen über keinen Weltschöpfungsmythos nach dem Konzept "Ursuppe" und Chaos mit weiblicher Schöpfergottheit etc. verfügten. Es heißt schlichtweg, dass dieser Mythos nicht übertragen wurde, weil er durch andere Erklärungsnotwendigkeiten in den Hintergrund getreten, vielleicht einfach als bekannt vorausgesetzt wurde. Das Phänomen der fehlenden "Ursuppe" findet sich auch bei den Inselkelten, deren Mythologie vor allem die Einwanderungswellen auf das Eiland und die daraus entstehende Ordnung beschreibt.

Wenn man den Aspekt der fehlenden "Ursuppe" und gewisse formale Entsprechungen zu anderen Kulturen betrachtet, so scheint ein Kulturtransfer nicht absolut unwahrscheinlich -belegt ist er aber nicht.

Nun soll in diesem Beitrag aber keine Diskussion um Kulturtransfer oder andere kulturgeschichtliche Evolutionstheorien geführt werden. Mit den obigen Ausführungen sollte lediglich dargestellt werden, dass die Betrachtung und Interpretation der Götter- und vielleicht auch Drachenwelt der Südamerikanischen Zivilisationen wesentlich unklarere Grundlagen haben, als dies beispielsweise bei den vorderasiatischen Kulturen der Fall ist und dass die Bezeichnung Drache für verschiedene Darstellungen und Figuren im engeren Sinne nicht unbedingt korrekt sein muß.

Wie die untenstehende Zeittafel zeigt, sind im Andengebiet seit etwa 3500 v. Chr. feste Siedlungen bäuerlicher Kulturen auszumachen, deren Gebäude und Gräber bereits auf soziale Unterschiede schließen lassen.


Von etwa 1200 v. Chr. an sind in den Anden dann neue, größere Zivilisationen auszumachen. Die am weitesten verbreitete frühe Kultur war die Chavin-Kultur (1200 - 200 v. Chr.). An scheinend basierte sie auf einem religiösen Zeugungskult, dessen Götter in allen späteren Kulturen der Zentral-Anden wiederkehren und bis zur Zerstörung der Ur-Religionen durch die europäischen Eroberer im 16. Jh. Verehrt wurden.

Natürlich verarbeitete die Chavin-Kultur die religiösen Vorstellungen der Vorgängerkulturen und so nimmt es kein Wunder, dass ein zentrales Element der Chavin, der "Fangzahngott" bereits in den früheren Kulturen immer wieder auftaucht und sich auch bis in den späten Horizont hinein in der ganzen Andenwelt findet.

Wesentliche Merkmale der Fangzahngottheit sind fratzenartige Katzen- (Jaguar) gesichter mit riesigen Fangzähnen, Elemente von Schlangen, Menschen und diversen anderen Tieren. Man darf getrost von einem animistischen Hintergrund ausgehen, der zur Vorstellung dieser Mischwesen geführt hatte. Die gleichen Elemente finden sich auch bei den Schöpfergottheiten der Andenregion, die sich wahrscheinlich auf die archaischen Stabgottheiten zurückführen lassen.

Die bekanntesten südamerikanischen Götter sind männlich, die repräsentieren die Sonne und lassen sich immer wieder auf die Kulturheroen zurückführen, die den diversen Völkern durch ihre oben bereits angesprochene Wanderung das Wissen um Maisanbau, Bewässerung etc. gebracht und daraus auch ihren Schöpfer- und Herrschaftsanspruch abgeleitet hatten. Diese Götterwelt ist uns natürlich vor allem durch die Überlieferung der europäischen Eroberer und der späten Hochkulturen des Andenlandes, allen voran der Inka, bekannt.

Im früh- und vorgeschichtlichen Hintergrund allerdings tummeln sich die animistischen Fangzahn- und Stabgottheiten, bis hin zu den diversen Mamas, den Erdgöttinnen, den Urmüttern -wie z.B. der Pachamama, der Erdgöttin der Inka. Pachamama war eine der frühesten Gottheiten und für das Wohlergehen der Pflanzen und Tiere verantwortlich. Selbst heute noch opfert man der Pachamama bei allen wichtigen agrarisch orientierten Festen. Und auch die bei den Inka kaum noch bedeutende Mondgöttin Si sollte man allein deshalb nicht verschweigen, weil ihr ursprünglich eine wesentliche Rolle in den Glaubensvorstellungen der Andenvölker zu Eigen war.

Sie war immerhin die höchste Göttin der Moche und später auch der Chimu und herschte als Königin der Jahreszeiten und des Wetters auch über Götter und Menschen.

Kehren wir zurück zu den sehr ursprünglichen Fangzahn- und Stabgottheiten, so lässt sich hier feststellen, dass das Geschlecht noch nicht eindeutig festgelegt war. Es finden sich weibliche und männliche Darstellungen gleichermaßen und immer wieder Schlangen.

Drachenkämpfe, wie im vorderen Orient, die auch mythologisch die Ablösung matriarchaler durch patriarchale Strukturen dokumentieren, lassen sich -letztendlich wohl aufgrund der Quellenlage- kaum ausmachen.

Eine der wesentlichen Gottheiten, die von der Chavin-Kultur des frühen Horizontes bis in den späten Horizont immer wieder dargestellt wurde, ist die Stabgottheit mit männlichen oder weiblichen Merkmalen.Die Stabgottheit hat mit ziemlicher Sicherheit mit Fruchtbarkeit zu tun. Auf den Abbildungen halten sie m.E. Schlangen/Drachen in den Händen, sie werden aber auch mit Maiskolben abgebildet.

Dies ist auch der Grund, weshalb man trotz passendem Erscheinungsbild mit der Charakterisierung der frühen Andengötter als Drachen sehr vorsichtig ist. Andererseits finden sich in der Ikonographie, in ihrer Entwicklung und in den bekannten (wenn auch nicht unbedingt ungefilterten) Mythologien alle Elemente, die in anderen Kulturen der Welt zur recht eindeutigen Entwicklung einer Drachenvorstellung geführt haben. Wir finden auch in Südamerika die einschlägigen Symbole wie Schlangen oder zusammengestzte Wesen, wir finden weibliche Erd- und wahrscheinlich auch Schöpfergottheiten, wir können weitere mächtige Göttinnen als Urmütter der Völker (und sicher auch der Götter) ausmachen und wir haben es entsprechend der zivilisatorischen Entwicklung auch mit Regen und Wettergottheiten zu tun. Und nicht zuletzt führen alle Andenkulturen in der untersuchten Region ihren Ursprung auf Wasser und Höhlen zurück, als zentrale Quelle allen Lebens der Titicacasee.

Al Apaec war der Fangzahngott der Moche- und der Chimu- Kultur, eine eher abstrakte Gottheit, deren Darstellungsform Vorläufer in der Chavin- Kultur hat.

Wenn auch keine ursprünglichen Drachenkämpfe nachweisbar zu sein scheinen, eine zumindest ideologische Unterordnung ursprünglicher und fremder Götter haben die Inka letztendlich zur Perfektion entwickelt. Ihr kulturell ja recht junger oberster Sonnengott wurde mythologisch mit jeder unterworfenen Kultur immer älter gemacht, damit die Inka ihren Vormachtanspruch sichern kommten. Selbst eindeutig ältere Schöpfergottheiten anderer Kulturen wurden dem Viracocha als entweder gleichaltrig oder jünger dargestellt. Der Viracocha der jungen Inkakultur wurde zum ersten Gott der Andenregion. Es ist durchaus auch zu vermuten, dass diese älteren Schöpfergottheiten wie z.B. Pachacamac auf weibliche Schöpfergottheiten zurückzuführen sind und von den Inka zweckmäßigerweise vermännlicht wurden. Pachacamac nämlich war eine so mächtige Gottheit der Küstenregionen, dass es den Inka einfach nicht gelingen wollte, diese ihrem Viracocha unterzuordnen. Als Lösung dieses Problems wurde schließlich durch mythologische Trickserei festgestellt dass Pachacamac und Viracocha letztendlich identisch waren. Dazu musste Pachacamac unabhängig von seiner tatsächlichen Natur aber natürlich männlich sein.

Pachacamac gilt übrigens als Sohn der Sonne und des Mondes. Eine frühere Gottheit namens Con hatte die Menschen geschaffen, doch Pachacamac besiegte die Gottheit und verwandelte die Menschen in Affen.

Bachue, "Die mit den großen Brüsten", war die Fruchtbarkeitsgöttin der Chibcha. Die Darstellung auf dem Gefäß aus Ecuador ist vermutlich mit der Göttin identisch.

Abbildungen der Fangzahn-Gottheit finden sich schon vor dem Einsetzen des frühen Horizontes. Vor allem in der Moche-Kultur finden sich zahlreiche Darstellungen. Hier wurden die Merkmale eines Katzenwesens mit denen der Schlange und eines Hirsches verschmolzen.

Diese zentrale Legende lässt immerhin die Schlussfolgerung zu, dass auch bei den Andenkulturen vor den männlichen Schöpfergöttern eine andere Schöpferkraft vorausgestzt wurde, dass also die allmächtigen männlichen Götter auch nur Schöpfungen einer älteren wahrscheinlich universelleren (weiblichen? chaotischen?) Schöpferkraft waren. Und wenn dies stimmt, dann muß es auch eine mit den orientalischen Drachenkämpfen vergleichbare Auseinandersetzung zwischen den Vertretern des naturreligiösem "Chaos" und denen der zivilisatorischen Ordnung gegeben haben. Ob hier mangels schriftlicher Überlieferungen die Ikonographie der Andenregion Aufschluß geben kann, vermag ich nicht zu beurteilen. Möglicherweise aber kann diese Hypothese ein brauchbarer Ansatzpunkt zur Entschlüsselung bislang rätselhafter Darstellungen der alten Völker sein.

In der HuaCa des Dragon, einem Zeremonialbau nordwestlich von Chan Chan, finden wir gut erhaltene Reliefs, die uns Einblick in die Bilderwelt der Chimu- Kultur zeigen: Figuren, die Stäbe tragen, eine Vielfalt von Wesen und immer wieder der Bogen mit der doppelköpfigen Regenbogenschlange.

Schlangendarstellungen finden sich in der Kunst der gesamten Andenregion. Hier die Figur eines Schlangenmannes aus der Küstenstadt La Tolita in Ecuador.

Dieses Steinbildnis einer Schlange ist typisch für die Stelen, die man in Pukura in der Nähe des Titicacasees fand. Es geht auf die frühe Zwischenzeit zurück.

Die Gottheit am Sonnentor von Tiahuanaco vereint in sich Merkmale verschiedener Andengottheiten. Sie steht in der Tradition der Stabgottheiten und stellt entweder Viracocha oder den weinenden Gott dar.

Bildnachweise:Alle Abbildungen in diesem Heft entstammen dem Buch: David M. Jones und Brian L. Molyneaux; Die Mythologie der Neuen Welt, EDITION XXL, Reichelsheim 2002

Literaturhinweise:

David M. Jones und Brian L. Molyneaux; Die Mythologie der Neuen Welt, EDITION XXL, Reichelsheim 2002

Popol Vuh, Das Buch des Rates, Mythos und Geschichte der Maya, Eugen Diederichs Verlag, 1998

Bernd Schmelz,Rüdiger Vossen, Auf Drachenspuren, Holos Verlag, Bonn