LEVIATHAN - DAS ZELT DER GERECHTEN

ARNULF V. HEYL

aus der Gedächtnisschrift für Eberhard Klingenberg - im Erscheinen, Vorabdruck in DRACON - Zeitschrift des Vereins zur Förderung der Drachenforschung Hefte 2 + 3 1999

Vorbemerkung

Die folgende ideengeschichtliche Skizze ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern Teil eines bis in die gemeinsame Studienzeit zurückreichenden Dialogs mit Eberhard Klingenberg, dem dieser Beitrag gewidmet ist. Viele ihn berührenden Bezüge kommen in dem Themenfeld Leviathan zusammen und so könnte an mancher Stelle stehen: persönliche Mitteilung von E. K.

1. Lebendiger Leviathan

"Leviathan - Das Magazin für Horror und Phantastik" lautet der Titel (oder lautete zumindest 1992 der Titel, denn der Medienumschlag der Fantasy ist beachtlich) einer Zeitschrift, die Comic, Science Fiction, Fantasy und Horror verbindet (1).

"Leviathan - Drama einer Hintergrundmacht" lautet eine verschlüsselte Botschaft aus dem rechts - okkulten Ideenkreis, die nur von Insidern zu deuten ist (2). Familie Ludendorff läßt grüßen.

Auch in der "Weltformel" der Gemeinnützigen Stiftung für Existenzanalyse (3) wird das esoterische Gewölbe, das von I Ging bis zu Wasserstoff - Peroxyd gespannt ist, erst durch Leviathan komplett.

Leviathan ist auf unerwartete Weise lebendig. Leviathan ist ein Ungeheuer und zwar ein ungeheures Ungeheuer, gewissermaßen hoch zwei das Ungeheuer schlechthin. Als solches kann es seine Idendität in vielerlei Gestalt behalten, ja erst entfalten. Er tritt in beiderlei Geschlecht auf, wenn sich seine weibliche Erscheinungsform auch eher verborgen hält.

Spinoza unterscheidet als Ahnherr der modernen Textkritik drei Medien für das Auftreten von Ungeheuern in der Schrifttradition (4):

  • 1) als Märchen, z.B. der rasende Roland, der auf dem gefügelten Drachen reitet
  • 2) als politische Geschichte, z.B. Perseus' Kämpfe
  • 3) als heilige Geschichte, z. B. Elias im Feuerwagen.

In allen diesen Medien begegnet uns Leviathan, den Carl Schmitt bei Thomas Hobbes als mythische Totalität von Gott, Mensch, Tier und Maschine im einzelnen herausarbeitet (5). Mit Maschine ist in diesem Zusammenhang nicht Technik gemeint, sondern im Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts ein Dreiklang aus Mechanismus, Organismus und Kunstwerk. Gott tritt hier als sterblicher Gott auf. Dies ist wohlgemerkt kein Weniger sondern ein Mehr, da die Unsterblichkeit der einzige im mehrfachen Sinn unauslöschliche Makel Gottes ist.

Carl Schmitts ideengeschichtlicher Überblick ist seither unerreicht in seiner Prägnanz und Kompaktheit. Es wäre vermessen, ihn hier verkürzt wiederzugeben, so daß er durch Verweis als inkorporiert gelten soll, auch wenn Ergänzungen angezeigt sind. Natürlich atmet das Werk den Geist, d.h. den Ungeist, des Jahres 1938 und der Antisemitismus von Schmitt ist nicht etwa Sklavensprache, auch wenn seine spätere Interpretation dies in eine schillernde selbstmythologisierende Ironie zu heben versucht. Carl Schmitt hat sich als Benito Cereno des Europäischen Völkerrechts stilisiert (6) und damit über Herman Melville eine "Kapitänsbrücke" zu Ahab und wieder zum Leviathan hergestellt. Und so warnt und lockt er 1945 zugleich (7):

"Vorsicht!
Hast Du vielleicht schon einmal etwas von dem großen Leviathan gehört, und es drängt Dich, in diesem Buch zu lesen? Vorsicht, mein Lieber! Dieses ist ein durch und durch esoterisches Buch, und seine immanente Esoterik steigert sich in dem Maße, in dem Du in das Buch eindringst.Laß also besser die Hände davon! Lege es wieder zurück an seine Stelle! Faß es nicht wieder an, mit Deinen Fingern, mögen sie nun gewaschen und gepflegt oder zeitgemäß blutig und gefärbt sein!... Die fata libellorum und die fata ihrer Leser gehören auf eine geheimnisvolle Weise zusammen... Aufrichtig Dein guter Freund Benito Cereno." Man achte genau auf die Worte: es heißt nicht "blutig gefärbt" sondern "blutig und gefärbt" - "hautfarben gefärbt"?

Uwe Steffen unterscheidet mit zahlreichen lesenswerten Beispielen folgende biblische Deutungen - (1) - und davon getrennt - 2 - folgende literarische Anknüpfungen an den Leviathan der Bibel, wobei die Unterscheidung zwischen (1) und (2) kaum zu überzeugen vermag (8):

1)Die naturalistische - mythologische - metaphysische - tiefenpsychologische - allegorische Deutung. Man könnte das weiter verfeinern und etwa die symbolische und die metaphorische gesondert ausweisen. 2) Leviathan - der Antichrist - der Staat - das Abgründige in der Natur - das Abgründige in der Natur - das Abgründige in der Natur des Menschen - die Zusammenfassung aller materiellen Kräfte - das mythisch-böse Weltprinzip.

Das ist natürlich nicht vollständig. Ein vitales Ungeheuer, das sich nach Drachenart erst im Gestaltwandel entfaltet, läßt sich nicht enumerativ erfassen. So fehlen die phantastischen, die narrativen und die esoterischen Leviathane. Wenn der obige Dreiklang von Spinoza nicht nur analytisch unterschieden sondern synthetisch verbunden wird, dann kann aus dem Märchenhaften, dem Politischen und dem Heiligen noch weit mehr entstehen als in der Säkulartheologie Steffens angelegt ist.

2. Der hebräische Leviathan

Kuno Füssel faßt die altorientalische Bedeutung des Leviathan wie folgt zusammen (9):

"Der Leviathan ist ein bedrohliches Untier, seine Entstehung hängt mit der Weltschöpfung selbst zusammen, seine endgültige Vernichtung steht noch aus. Darüber erscheint der Leviathan als Gottesfeind". - hier ergänze ich: gerade dadurch als erster Sohn und Partner Gottes (10) - "Mit diesen Attributen und Funktionsbestimmungen gehört der Leviathan zum Typus der in der altorientalischen Mythologie in verschiedenen Formen und mit ganz unterschiedlichen Bezeichnungen auftretenden `Chaosdrachen“"

Der hebräische Leviathan ist gewaltiger als der biblische, weil er auch aus der vor- und nebenbiblischen Tradition lebt, aber vor allem auch deshalb, weil sich in ihm, der wie alle Drachen ein zusammengesetztes Hybridwesen ist (11), das fruchtbare Gemenge des kanaanäisch - ugaritischen Haupstroms (12) mit seinen babylonischen und ägyptischen Zuflüssen, das die hebräische Tradition geschaffen hat, bildhaft erkennen läßt. Liwyatan ist die hebraisierte Form des kanaanäischen litanu (ltn), der von Baal bezwungen wird. Der Name bedeutet das Geringelte, was auf das Meer, das Schöpfungsgeschehen, das Chaos, aber auch auf das "ewige" Leben der sich häutenden Schlange verweist. Als Uroboros - die sich in den Schwanz beißende Schlange - hat sie eine eigene Traditionslinie eröffnet (13), die z.B. in der Alchemie eine unerhörte Ikonographie zur Folge hatte.

Auch Baal als Wetter- und Fruchtbarkeitsgott in einem fiel es nicht einfach zu, den/die Leviathan in seiner/ihrer (?) männlich-weiblichen Doppelgestalt zu besiegen, wobei die Urzeittat zugleich eine Endzeittat ist - dies verweist auf eine zyklische Struktur (14):

"Als du schlugst Ltn, die entweichende Schlange, vernichtet hast die sich windende Schlange, den Mächtigen mit den sieben Köpfen, warst du entblößt, lösten sich die Himmel wie der Gürtel deines Gewandes."

Bei Jesaja 27, 1 und den bekannten Psalmstellen 74, 13 und 104, 26 wird dieser Mythos aufgenommen und fortgeführt. Vor allem aber hat Leviathan als das Meeresungeheuer von Hiob 40, 25 - 41, 26 in der Rezeption durch Hobbes Geschichte gemacht. Es ist identisch mit dem Ungeheuer, in dem Jonas drei Tage, die für die Unendlichkeit aber auch für eine Metamorphose stehen, verbracht und verändert wurde. Von einem Wal ist nicht die Rede, auch wenn die spätere Bildprojektion walfangender Kulturen einen Sinn gibt, die uns nur heute nicht geläufig ist, weil das greenpeace - Schutzobjekt verniedlicht wurde. Der Weg vom Mittelmeer nach Ninive übersteigt als Raum - Zeitsprung auch die Möglichkeiten eines normalen Meeressäugers. Wenn Leviathan als Spielzeug Gottes vorgestellt wird, mag am Anfang nur die überlegene Allmacht Gottes in ein Bild gefaßt worden sein. Das Bild entfaltet aber sein Eigenleben, wenn sich das Spielzeug als Subjekt - als Spielpartner - behauptet. Psalm 104, 25 - 26:

"Da ist das Meer, so groß und so weit,
drin wimmelt es ohne Zahl,
das kleine und das große,
Seeungeheuer schwimmen darin,
Leviathan, den du erschufst dir zum Spielzeug"

Für Luther weiß bereits (bereits! Denn die Tradition bleibt nur durch laufende Veränderung lebendig, daß Gott den Drachen Leviathan bändigt, um täglich drei Stunden und nicht nur, wie man früher annahm: eine Stunde) mit ihm spielen zu können (15). Anrührend ist, daß Gott, der doch den Kosmos beherrscht, dem irdischen Tagesrhythmus folgt, und erst recht, daß er bei unterstelltem fehlenden Schlaf ein Achtel seiner Zeit dem Spiel widmet. In diesem unerwarteten Stellenwert des Spielerischen im Schöpferischen liegt eine tiefe Weisheit. Christoph Uehlinger kommentiert dies mürrisch (16) : "Wo nicht mehr an die Macht von Drachen geglaubt wird, wird auch Leviathan zur Spielfigur. Hier ist ein erster großer Schritt hin zu den harmlosen Drachen von Fabel und Märchen getan". Nun, weder ist es ein erster Schritt noch ist er groß, dies gerade deshalb nicht, weil Drachen in Fabel und Märchen ganz und gar nicht harmlos sind (17) - ein solcher Paradigmenwechsel findet erst beim darauf aufbauenden Kinderbuch Mitte des 20. Jahrhunderts statt (18).

Ist dann auch die Poesie eine Verharmlosung, die darin liegt, daß Leviathan von Zeit zu Zeit "an den süßen Blumen von Eden schnuppert" (19) ? Dies geschieht, um das durch ihn selbst gestörte Gleichgewicht der Düfte wiederherzustellen, verdeutlicht aber zugleich, daß er dauernden Zutritt zum Paradies haben muß.

Leviathan ist als Meeresungeheuer die Gesamtidentität eines mittelpunktlosen Mythen - Rhizoms (20), das zahlreiche andere Drachen in sich aufnimmt. Baal - Litanu findet seine Entsprechung in dem Urkonflikt Marduk - Tiamat (21). Marduk muß die Urchoasdrachin Tiamat, seine Mutter, das Meeresungeheuer, angeln und zwar so, daß der Wind = Odem sie aufbläht, so daß er sie in Land und Wasser scheiden kann. Der Muttermord als ordnungsstiftender Schöpfungsakt! - von den Tiefenpsychologen ist das noch nicht erfaßt. In die Gesamtidentität gehen männliche Elemente ein wie Behemoth aber auch weibliche wie Rahab, nur zu Lilith, der Halbdrachin, bleibt die polare Spannung stets erhalten (22).

Es ist in der mythologischen Ikonographie geläufig, daß eine Figur Verwandtes, ja sogar Gegensätzliches in sich aufnimmt, so daß Leviathan trotz aller Detailbeschreibungen nur als Hybridwesen aufgefaßt werden kann, so wie ja auch die Engel als gefallene Engel zu den Drachen gehören.

Die christliche Deutung führt die hebräische Tradition fort und komplettiert sie eindrucksvoll im siebenköpfigen Drachen der Offenbarung des Johannes. Die mittelalterliche Leviathan - Deutung sieht ihn als Teufel, der das als Angelhaken ausgeworfene Kreuz verschlingen will, wobei Christus als Köder dient. Leviathan läßt sich durch die Knechtsgestalt Gottes täuschen. Und so sangen die Pilger bei den Kreuzzügen (23):

"O crux benedicta,
aller holze beszista
, an dir wart gevangen
der gir Leviathan"

Untergründig mag hier auch das Abendmahl als im Christentum einzig erlaubte Form der Gottesmahlzeit eine Rolle gespielt haben, dem ja der hebräische Contrapunkt gegenübersteht, daß der geangelte Endzeitdrachen als "Gastmahl des Leviathan" den Gerechten bereitet wird.

Eine eigenständige christliche Leviathanologie endet mit der Gleichsetzung Teufel = Drache = Leviathan = der falsche Glaube in der Zeit der Glaubensspaltung. In Kampf- und Schmähschriften wird die katholische Kirche mit der neuen Drucktechnik als Leviathan ins Bild gesetzt, am bildkräftigsten durch Lucas Cranach, der selber mit einem kleinen geflügelten Drachen zu signieren pflegte. Nach Uwe Steffen geht es auf Hieronymus und Gregor den Großen zurück, daß Luther Leviathan mit additamentum, also "Zusatz" und "verkehrte Aufassung", im Gegensatz zu sola fide und sola gratia gleichsetzte(24): "Alle, die da menschen gesetz tzu gottis gesetzen thun, die seynd gewiß gottis feynd und des Leviathan Apostell, und wer sie aufnympt und hellt, des Laviathan schüler." Die spiegelbildliche Verteufelung Luthers verdeutlichte ungewollt, wie ähnlich sich die beiden Konfessionen geblieben waren.

3. Chaosdrachen

Leviathan ist ein Meeresungeheuer, weil er als Chaosdrachen ein Akteur der Schöpfung ist. Das Meer ist in diesem Zusammenhang das Urmeer vor der Scheidung von Land und Wasser. Deshalb geht der Schmitt'sche Erklärungsgang in die Irre, der dem Leviathan die Seemächte und dem Behemoth die Landmächte zuordnen will (25). Sein bekannter Vorwurf der "mythologischen Unrichtigkeit" der Anwendung des Bildes des Leviathan auf den kontinentalen absoluten Staat trifft ihn selbst, weil er die in der Tradition angelegte Analogie von Weltschöpfung und Staatsschöpfung nicht wahrnimmt.

Der Begriff des Chaosdrachen ist aus einer Zeit vor der modernen naturwissenschaftlich induzierten Chaostheorie überkommen (26). Es wäre reizvoll, müßte aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die einzelnen Elemente dieses neuen Beschreibungs- und Erklärungsrasters aufzunehmen. Chaostheorie müßte ja eigentlich Ordnungstheorie heißen, da sie die Selbstorganisation von Ordnungsstrukturen betrifft. Im Chaos - Verständnis des Thowabohu, also des Ineinandergewickeltseins von Ordnung und Unordnung, ist dies vorweggenommen. Ordnung ist kein Zustand, sondern ein Vorgang und zwar ein dissipativer (27) - Schöpfung erschöpft. Deshalb braucht es Helden und Ungeheuer zu Beginn und eine Ruhepause nach dem Auftakt.

Die nichtlineare - chaotische - Hierarchie der Schöpfung wird deutlich, wenn dieses Ungeheuer ohne Gottesfurcht nur ein einziges Wesen fürchtet, nämlich einen kleinen Fisch namens Chalkis, der von Gott zu dem alleinigen Zweck erschaffen wurde, ihn in Schach zu halten (28).

Urzeitchaosdrachen finden sich ebenso wie Endzeitchaosdrachen in nahezu allen Kulturen. Die charakteristische Entsprechung von Urzeit und Endzeit verweist auf einen zyklischen Charakter des Geschehens, der aber im nahöstlich - abendländischen Denken anders als im fernöstlichen mit dem Zeitpfeil kombiniert ist. Deshalb ist es keine Überraschung, daß der nach hebräischer Mythologie bereits in der Schöpfung getötete Leviathan dereinst noch einmal bezwungen werden muß. Das Ungeheuer ist mit seinem doppelten Panzer, seinen schrecklichen Zähnen, Feuer und Rauch so furchterregend und es selbst wiederum, mit dem täglich gespielt wird, spielt seinerseits mit dem Meer, so daß das Chaos selbst vor ihm erschrickt (29). Man ist versucht zu sagen, das Chaos wird ins Chaos gestürzt. Die Dämonologie von Jean Bodin, die Hobbes beeinflußt hat, aber auch die Bildtradition über Hieronymus Bosch zu Pieter Brueghel d.J. (Höllen-Brueghel) schöpfen aus dieser Quelle.

Die Verwandschaft zu den Engeln kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden, aber es ist sicher kein Zufall, daß der Evangelist der Apokalypse einen Engel als Attribut hat, natürlich keinen geschlechtslosen oder mittlerweile meist weiblichen Schutzengel mit Goldhaar sondern einen schrecklichen Boten Gottes. Übrigens sind auch die Ungeheuer der übrigen Evangelisten die Grundbausteine der babylonischen Hybriddrachen, die sogen. Kalendertiere.

Eine unerwartete aber schlüssige und gut belegte Theorie der Ur-/Endzeitchaosdrachen stammt von Alexander und Edith Tollmann (30). Der Kometeneinschlag vor 9500 Jahren, der als Hauptwurzel der zahllosen Sintflutsagen identifiziert werden konnte, ist mittlerweile durch aufwendige Gesteinsuntersuchungen u.a. so gut rekonstruiert, daß die sieben Einschlagtrümmer (Impakte) nicht nur räumlich verortet sind, sondern daß ein Ablaufszenario möglich wurde. Sintflut, Sintbrand, Dauerregen, Dunkelheit, Dauerwinter, Salpeterniederschlag, neuer Frühling und neue Fruchtbarkeit entsprechen der Beschreibung der Apokalypse und paralleler Sagen / Mythen. So stellt sich der siebenköpfige Drache als real existierende Erscheinung dar. Die Urzeit- / Endzeit - Vertauschung ist nicht ungewöhnlich, wenn man sich die zahllosen Relationsvertauschungen (Gut / Böse oder männlich / weiblich) im Mythenstrom oder bei Religionsüberlagerungen vor Augen hält.

Zum Schluß dieses Abschnitts soll auf Franz Vonessen hingewiesen werden, dessen chaotisches Buch über die Herrschaft des Leviathan zum Thema paßt (31). Er stellt den Zusammenhang zu Sokrates her, wonach das Untier im Menschen an Schrecken den Typhon übertreffe. Die Kräfte der Zerstörung in der Welt und im Menschen vermählen sich und geboren wird der Leviathan. "Ich glaube, daß eine Politik, die sich ohne die Folgen zu kennen (ohne sie kennen zu können)" - schreibt er 1969 ! - "für Energiewachstum stark macht, in Wahrheit nicht für Energie, sondern für den Leviathan sorgt, ihn füttert und großwerden läßt; und daß überhaupt jedes Wachstum, welches nicht das der Vernunft ist, Lockspeise oder, wie Hamann es einmal ausdrückt, `Caviar des Leviathans“ ist". Vonessen stellt dann den Bezug zur Technik her, der im Bild der Maschine im 17. Jahrhundert noch nicht mit gemeint war. Und so gehört "Hunger infolge von Fressen" zur chaotischen Biologie des Leviathan. Und diesen Hunger stillen heißt: "man muß ganz große Planungen realisieren".

4. Gerechte

Aus der Haut des Leviathan wird am Ende der Zeit das Zelt der Gerechten gebaut (32). Das geht nur, weil das Ungeheuer einerseits groß genug ist und andererseits die Zahl der Gerechten (aller Zeiten!) mit 144 000 vergleichsweise klein. Was mit den anderen geschieht, bleibt unklar. Die kleine Zahl verweist auf das Grunddilemma der Gerechtigkeit. Unser aller Hoffen ist durch eine Sehnsucht nach Ungerechtigkeit zu unseren Gunsten und zu Gunsten derer, die wir lieben, geprägt. Es geht doch um die Gnade der ungerechtfertigten Rechtfertigung. Nach der hebräischen Mythologie wurde die Haut des Leviathan schon früher verteilt - Gott machte daraus leuchtende Gewänder, um Adam und Eva zu kleiden (33). Das war bereits nach dem Sündenfall eine unverdiente Gerechtigkeit und dann wird die Haut noch einmal zugeteilt, obwohl es doch sprichwörtlich ist, daß eine Haut nur einmal verteilt werden kann. Wenn die Knappheit auf diese Weise behoben wird, dann kommt der austeilenden Gerechtigkeit eine ganz neue Dimension zu, die es ermöglicht, eine unbegrenzte Zahl in die 144 000 aufzunehmen.

Bei Robert Ranke - Graves und Raphael Patai lesen wir (34):

"Gott wird aus Leviathans Fleisch nicht nur ein wunderbares Mahl bereiten und in den Straßen Jerusalems das feilbieten, was die Gerechten nicht essen können, sondern Er wird ihnen aus seiner Haut Zelte anfertigen und die Mauern der Stadt mit dem schmücken, was davon übrigbleibt - bis sie zu den Enden der Welt leuchten."

Das Ende der Welt erscheint in einem neuen Licht, wenn die Enden leuchten; denn das heißt ja, daß die Welt in neuer Qualität bestehen bleibt. Diese erzählte Geschichte lehrt zugleich, daß auch die Ungerechten ihr Lebensrecht behalten sollen, sonst könnten sie nicht die Reste essen, die sie aber bezahlen müssen, damit die Unterscheidung nicht aufgegeben wird. Die Gerechten definieren sich bei diesem Verständnis geradezu aus der Existenz der Ungerechten.

Heines Version des Gerechtenlohns betont den lukullischen Aspekt (35):


"Der Leviathans Länge ist
Hundert Meilen, hat Floßfedern
Groß wie König Ok von Basan,
Und sein Schwanz ist wie ein Zedern


Doch sein Fleisch ist delikat,
Delikater als Schildkröten,
Und am Tag der Auferstehung
Wird der Herr zu Tische beten.

Alle frommen Auserwählten,
die Gerechten und die Weisen -
Unsres Hergotts Lieblingsfisch
Werden sie alsdann verspeisen,

Teils mit weißer Knoblauchbrühe,
Teils auch braun in Wein gesotten,
Mit Gewürzen und Rosinen,
Ungefähr wie Matelotten.

In der weißen Knoblauchbrühe
Schwimmen kleine Schäbchen Rettich -
So bereitet, Frater José,
Mundet die das Fischlein, wett` ich!

Auch die braune ist so lecker,
Nämlich die Rosinensauce,
Sie wird himmlisch wohl behagen
Deinem Bäuchlein, Frater José.

Was Gott kocht, ist gut gekocht!
Mönchlein nimm jetzt meinen Rat an,
Opfre hin die alte Vorhaut
Und erquick` dich am Leviathan."

Während doch viele meinen, daß das vordergründige (sich in diesem Motiv erschöpfende) Streben nach Gottes Lohn diesen Lohn zunichte macht, ist Heine ganz unbefangen der Meinung, daß der Appetit die Mahlzeit rechtfertigt. Carl Schmitt, der wußte, daß Zitate ihren Ort und ihre Zeit haben, kam 1945 auf dieses Gastmahl Heines zurück (36).

Die Rolle des Leviathan in der großartigen Geschichte des Hiob zeigt seine Affinität zur mehrschichtigen Gerechtigkeit. Gottes Wette um Hiob, die mit Frau und Kindern als Opfern erfolgreich endete, war ein Spiel mit tödlichem Einsatz - die Gerechten hoffen auf ein weiteres End(zeit)spiel, bei dem der Spielgefährte der Einsatz ist. Es wäre noch zu erforschen, warum Leviathan für die christliche Theodizee nur eine marginale Rolle spielt, obwohl er doch bei Hiob ein imaginationsfähiges Bild hierfür liefert. Die Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt führt zu der Grundfrage, ob das Böse von Gott kommt oder (vielleicht gar gleichrangige) Gegenkraft Gottes ist. Daraus folgt der Grundwiderspruch der Gerechtigkeit, daß der, der die Macht hat, Normen zu setzen und andere daran zu messen, unversehens für die gerechte Ordnung insgesamt verantwortlich wird. Der Gesetzgeber als Richter ist zugleich Täter (vor allem als Unterlasser). Dadurch, daß Hiob die Glaubensprobe besteht, wird Gottes Verantwortlichkeit offenbar und seine Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. Erst José Saramago, der das Evangelium als Roman Jesu erzählt, läßt Leviathan in einem Rechtfertigungsdiskurs mit Gott und Jesus auf dem See Genezareth auftreten (37): "Es tauchte da, ungewärtigt, weil eher von der anderen Seite erwartet, steuerbords ein dunkler Fleck auf, in dem Jesu Einbildung zunächst ein die Ohren aus dem Wasser reckendes Schwein zu erkennen glaubte, doch nach etlichen Schwimmzügen erwies es sich als Mensch, oder in allem menschähnlich. Gott wandte das Antlitz dem Schwimmer zu, aufmerksam, ja neugierig ... Das Boot wankte, der Kopf hob sich aus dem Wasser, der Rumpf ihm hinterdrein, schwallartig, dann die Beine, es war der aus den tiefsten Tiefen auftauchende Leviathan ... nahm Platz auf dem Bootsrand, genau zwischen Jesus und Gott, doch das Gefährt, seltsam ohne Schlagseite. Jesus schaute abwechselnd von einem zum anderen und sah, daß sie abzüglich Gottes Bart, einander wie Zwillinge glichen, der Teufel freilich jünger wirkend ..."

5. Das Böse ohne Bosheit und das Gute ohne Güte

Ein "kurzer Einblick in die politische Wirkungsgeschichte eines mythischen Ungeheuers" (37) gehört zum Thema.

non est potestas super terram quae comparetur ei (Hiob 41, 24) = in der Lutherbibel 42, 25 "auf Erden ist seinesgleichen niemand"

Das ist für Hobbes die Chiffre des Staates. Leviathan, das so als höchste Gewalt beschriebene Ungeheuer, spricht als Titel seines Hauptwerks für sich. Leviathan taucht dort nur drei Mal im Text auf, drei Anrufungen, die nicht näher erklärt werden müssen. Gleich zu Beginn heißt es, die civitas oder respublica sei ein großer Mensch, ein großer Leviathan, ein künstliches Wesen, ein animal artificiale, ein automaton oder eine machina.

Die Verbindung des Guten und Bösen von Tier / Maschine ist der Staat. Er ist ohne menschliche Gefühle der Bosheit und der Güte, wird aber more geometrico aus der menschlichen Natur abgeleitet. Es ist kaum "ein aus guten englischen Humor geborener, halbironischer, literarischer Einfall", wie Carl Schmitt meint (39), wenn Hobbes von einem sterblichen Gott spricht:

atque haec est Generatio magni illius Leviathan, vel (ut dignius loquar) Mortalis Dei; cui Pacem et Protectionem sub Deo Immortali debemus omnem

Der Inhaber der staatlichen Gewalt ermöglicht als Oberwolf allen anderen, ihre eigene Wolfsnatur abzulegen, oder genauer: als eigene abzulegen und als Teil in den Leviathan hineinzuschlüpfen. Der Leviathan als Hybridwesen ist prädestiniert für eine zusammengesetzte Identität. Entscheidend für die Kraft und komplexe Wirkungsgeschichte des Bildes ist die doppelte Zusammensetzung, die sich daraus ergibt, daß das Private und das Öffentliche getrennt werden und beide Existenzformen des einzelnen eingefügt und in Spannung gesetzt werden, wie das nach der präzisen Analyse des Titelbildes des Leviathan durch Reinhard Brandt (40) als visuelle Botschaft von Hobbes mitgegeben wurde.

Hobbes setzt Immanenz an die Stelle von Transzendenz, indem er fußend auf Platon den Einzelmenschen organologisch im Gesamtmenschen, dem Giganten (im mehrdeutigen Sinn) aufhebt. Hobbes wurde durchaus zu Recht des Atheismus verdächtigt.

Die genannte Trennung von privat und öffentlich bzw. von fides und confessio führt über Spinoza zu Toleranz, Meinungsfreiheit und durch die Trennung von Innen und Außen auch zum Gesetzespositivismus und Rechtsstaat. Bei Hobbes hat das Recht einen eigenständigen Stellenwert, da es zwar frei gesetzt werden kann, als integrales Element eines primär psychisch begründeten Herrschaftapparats aber nicht mehr frei verändert werden kann. (Hobbes als Pionier des Verbots rückwirkender Bestrafung !). Die Staatsvergottung und der Liberalismus - zwei Zwillinge - wer hätte das gedacht ? - beide bekämpfen in ihrer (real so nicht mehr existierenden) Reinkultur auf ihre Weise das Schwache und wollen, daß sich das Starke, Konkurrenzfähige, durchsetzt. Der Lebenskampf, der die Solidarität nicht kennt, macht aus Kombattanten Ungeheuer.

Nicht nur Freiheit sondern auch Gleichheit wird von Hobbes radikal gedacht - alle Menschen sind von Natur aus gleich, deshalb wird ja gerade die Befriedungsaktion des Leviathan erforderlich. Auch dieser Ideenstrang bleibt fruchtbar mit der inneren Widersprüchlichkeit, daß das Verhältnis der Leviathane untereinander wölfisch bleibt (41). Mit dem Leviathan kann man keine Verträge schließen. Solange es keinen Weltstaat gibt - der uns erspart bleiben möge - verändert sich die Gleichheit, wenn sie Grenzen überschreitet. Auch das ist ein Gerechtigkeitsproblem. Grenzen sind zur Wahrung der Vielfalt erforderlich und um Identität zu ermöglichen. Wenn man so dem Besonderen gerecht wird, muß die Gerechtigkeitdes Allgemeinen zurücktreten. Der Leviathan von Hobbes überspringt Grenzen nicht, er verschiebt sie allenfalls im Krieg.

Die Wirkungsgeschichte des Leviathan sprengt alle Maßstäbe. Zahlreiche Antihobbes (z.B. von Anselm Feuerbach)und wahre Leviathane zeugen davon. Hegel nennt es deshalb "ein sehr verrufenes Werk" und das oben wiedergegebene Zitat von Hamann bezeichnet die moralistische bürgerliche Heuchelei als "Kaviar des Leviathan" (42). Erinnert sei auch an Nietzsches Sicht des Staates als "das kälteste Ungeheuer".

Der früher eigenständige christliche Deutungsstrang wird in der Evangelischen Theologie weitgehend durch Hobbes verdrängt, z. B. bei Dietrich Braun und seinen "Erwägungen zu Ort, Bedeutung und Funktion der Lehre von der Königsherschaft Christi in Thomas Hobbes` `Leviathan“ (43).

In "Behemoth", Franz Neumanns 1942 erschienener Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (44), wird der Leviathan in Fortführung einer jüdischen Traditionslinie zur Leviathanin - dies bedürfte noch einer besonderen Aufarbeitung.

Staaten als Leviathane ohne Rechtsstaat sind in gewissem Sinn gehäutete Ungeheuer - für sie selbst kann das Verbot rückwirkender Bestrafung nicht ohne Vorbehalt gelten. Das war für den Nürnberger Gerichtshof eine Selbstverständlichkeit. Das Gericht wird dann zum Tribunal. Die Menschenrechtskonvention von 1952 versucht dies durch eine nicht unproblematische Unterscheidung zwischen zivilisierten und unzivilisierten Völkern zu erfassen. Es heißt in Art 7 Abs. 2 MRK:

<"Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war"

Bei der Ratifizierung der MRK hat die BRD die Anwendung dieses Elementarvorbehalts nach Maßgabe des Art 64 für sich ausgeschlossen. Dies erklärt die lächerlichen Bemühungen, die politisch gewollte Bestrafung von DDR - Systemtätern durch rückwirkende Uminterpretation des DDR - Rechts rechtsstaatskonform erscheinen zu lassen.

6. Der narrative Leviathan

Im 9. Jahr der Republikanischen Zeitrechnung (1801) erschien eine anonyme Schrift
(45) "Leviathan oder Rabbinen und Juden.

Mehr als komischer Roman und doch Wahrheit. Voll der kurzweiligsten Erzählungen und doch Ernst."

Der Titel dieser Schrift verdeutlicht die narrative Gemengelage, die aus dem laufenden Gestaltwandel des Ungeheuers folgt. Hierher gehört ein Seitenblick auf Lilith, die Geliebte des Leviathan (46), deren Verwandlungskraft in der genannten Schrift der Emanzipation dienstbar gemacht wird:

"Und das merke sich ein jeder, der ein Weib und Lust bey ihr zu schlafen hat, daß er vorher mit seiner Frau rede, ehe er sich über sie hermacht, dann es könnte leicht seyn, daß eine lüsterne Teuflin die Gestalt seines Weibes angenommen hätte ..."

Hermann Melvilles Moby Dick ist nicht nur Abenteuerroman und eine Beschreibung der Segel- und Walfangtechnik sondern vor allem ein Schlüsselroman, der dem Leviathan gewidmet ist. Dort heißt es eingangs (47):

"Das Sammelsurium an Aussagen über den Walfisch, seien diese noch so verbürgt, darf deshalb im einzelnen Fall nicht immer als hieb- und stichfeste Waltierkunde aufgefaßt werden. Beileibe nicht. Was insbesondere die Schriftsteller des Altertums sowie die hier vertretenen Lyriker anlangt, so sind die nachstehend angeführten Ausschreibsel höchstens insofern belangreich oder unterhaltsam, als sie aus der Vogelschau einen flüchtigen Überblick über alles das bieten, was bisher von mancherlei Völkern und Zeitaltern, bis auf das unsere, kunterbunt durcheinander über den Leviathan gesagt, gedacht, geträumt und gesungen worden ist."

Der weiße Wal ist Leviathan und Ahab, der Stolz, Trauer und Wahnsinn verbindet, ist Baal (48). Die dem Fangschiff zugeordneten einzelnen Schaluppen stehen jeweils für verschiedene Religionen, die den Wal mit- und gegeneinander als "Verkörperung all der tückischen Mächte" jagen, wobei im Finale ein Rollentausch erfolgt.

Moby Dick zieht nicht nur im Meer die weiße Gischtspur hinter sich her, in der die Endzeit aufleuchtet, die für den Leviathan überliefert ist, ihm folgt auch eine Erzählspur, so von Sven Böttcher, "der Wal im Netz" (einem Online - Terroristen) oder in der Killerwalsparte, zu der auch der weiße Hai gehört (49). Weiß bedeutet hier den Tod.

Gudrun Enßlin wählte die Pseudonyme von Moby Dick mit Bedacht, da die Verschlüsselung des Schlüsselromans zugleich die Jagd auf das Staatsungeheuer rechtfertigen sollte, in Wirklichkeit aber die Vergeblichkeit der Jagd illustrierte (50). Ahab stand für Andreas Baader, Starbuck für Holger Meins, Zimmermann für Jan-Carl Raspe, Quipeg für Gerhard Müller, Bildad für Horst Mahler, Smutje für sie selbst, nur Ulrike Meinhof wurde durch den Decknamen der Heiligen Theres ausgegrenzt. Enßlin zitierte als Smutje gegenüber Theres den Auftritt von Ahab bei Melville:

"... sichtbar vor aller Welt. Und sollte von Geburt an oder durch besondere Umstände hervorgerufen tief auf dem Grunde seiner Natur etwas Krankhaftes sein eigensinnig grillenhaftes Wesen treiben, so tut das seinem dramatischen Charakter nicht den geringsten Eintrag. Alle tragische Größe beruht auf einem Bruch in der gesunden Natur, des kannst du gewiß sein ..."

Und über Bildad hieß es:

"Wenn er sich auch geschworen hatte, kein Menschenblut zu vergießen, so hatte er in seinem enganliegenden Quäkerrock das Blut Leviathans in Tonnen und Abertonnen vergossen. Wie der fromme Bildad nun am besinnlichen Abend seiner Tage diese Widersprüche rückschauend in Einklang brachte, weiß ich nicht; aber sie schienen ihn nicht sonderlich zu berühren, und höchstwahrscheinlich war er längst zu dem weisen und vernünftigen Schluß gekommen, daß für den Menschen die Religion eins ist und die reale Welt ein ganz anderes. Die Welt aber zahlt Dividenden."

Eine Verschlüsselung zweiter Stufe bringt das Theaterstück über Ulrike Meinhof = Marie "Leviathan" von Dea Loher (51).

Paul Auster nutzt einen Identitätstausch mit seiner Romanfigur Sachs, um dessen geplanten Buchtitel Leviathan als eigenen zu übernehmen, nachdem "the earth suddenly swallowed him up" (52). Leviathan wird auf vertrackte Weise mit der Freiheitsstatue als idealer Gesamtperson der USA ineinsgesetzt. Der Bombenterror gegen die zahllosen reproduzierten Leviathane der Provinzfreiheitsstatuen ist Hintergrund für einen Umstülpungsvorgang, in dem Sachs' Inneres nach Außen gekehrt wird. Es handelt sich zugleich um einen Roman über den seltsamen UNA - Bomber (UN-iversities - A-irlines) Ted Kaczynski, geschrieben vor dessen Identifizierung. Auster hat dessen Mischung aus Candide und Enßlin intuitiv vorausgeahnt. Wer weiß, vielleicht gehört auch der Oklahoma - Bomber McVeigh in diesen geflochtenen Zopf, in dem links und rechts leicht vertauscht werden können.

Direkte, vielleicht auch indirekte, Quelle für Auster muß Julien Greens "Leviathan" (geschrieben 1928) gewesen sein. Es gelingt Green, den Leser mit einem Mörder zu verschmelzen und Leviathan als das Ungeheuer in uns spürbar zu machen.

Arno Schmidt knüpft mit seiner Ur- = Endzeitparabel "Leviathan oder Die Beste der Welten" an Leibniz / Voltaire und Hobbes / Schopenhauer an, wenn er versucht, "den Individualwillen gegen den ungeheuren Gesamtwillen des Leviathan zu setzen, was aber in Anbetracht der Größendifferenzen zur Zeit völlig unmöglich erscheint" (53):

"Auch Cesare Borgia hatte viel Kunstverständnis. Gewiß ist unsere Einsicht räulich und zeitlich begrenzt. Dennoch bleibt der Leviathan, der seine Bosheit bald konzentriert, bald in größter Mannigfaltigkeit und Verteilung genießen will. - Nichts berechtigt uns nebenbei, anzunehmen, daß unser Leviathan einzig in seiner Art sei. Es mag viele Wesen seiner Größenordnung und unter ihnen auch gute, weiße, englische, geben."

Zur Erinnerung: 1) war Melville Amerikaner, 2) hat erst er Leviathan ganz unenglisch geweißelt und 3) meinte er das böse. Drei Fehler in eins! - nun, die Zahl drei spielt als Brücke der Unendlichkeit bei Arno Schmidts Leviathan eben eine große Rolle.

Robert Shea und Robert R. Wilson bringen in ihrer phantastischen Trilogie Illuminatus! das Lebensgefühl und die Sinnsuche der 70iger locker auf den Punkt und aktualisieren die Spur des unsterblichen und einsamen Gesamtwesens, das Parallelexistenzen als Pyramide mit Auge und als Buch angenommen hat. Zur Farbwahrnehmung sagen sie:

"Weiterhin gibt es in Moby Dick ein ganzes Kapitel über die Farbe Weiß; daß Weiß sehr viel grausamer als Schwarz ist; allen Kritikern, ausnahmslos a l l e n Kritikern ist das bisher entgangen ..." (54).

Nachdem Joseph Roth die Medusen- und Basiliskengestalt vom Leviathan abgespalten und Hitler zugeordnet hatte, den er seltsam distanziert beschreibt, wurde er wieder frei, zur hebräischen Tradition zurückzukehren, die keine Kämpfe zwischen dem Menschen und diesem Mitgeschöpf überliefert. In seiner Erzählung "Leviathan" schildert er Nissen Piczeniks freiwillige Heimkehr zu seinen echten Korallen, nachdem er des Teufels unechte verbrannt hatte (55):

"Möge er dort in Frieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunft des Messias."

Anmerkungen:

  • 1) Vgl. auch den Science Fiction - Roman Michael Moorcock, Der Land - Leviathan 1982, sowie das Fantas - Rollenspielmagazin Leviathan, das 1988 (vielleicht auch später) noch existiert hat. 1989 war der Film "Leviathan, der Film, der das Unvorstellbare vorstellbar macht" im Verleih.
  • 2) Konrad Ott, Leviathan. Drama einer Hintergrundmacht 1974. Beim Stichwort Ludendorff mag auch die Assoziation erlaubt sein, daß das 1913 vom Stapel gelaufene damals größte Passagierschiff der Welt, "Vaterland", von den USA 1917 unter dem Namen Leviathan als Truppentransporter einesetzt wurde.
  • 3) Derek X. P. Soter, Die Weltformel 1995 4) Spinoza, Tractatus Theologico - Politicus, Hrsg. Günter Gawlich 1979, S. 258 f f
  • 5) Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hrsg. Günter Maschke 1982
  • 6) Sava Klickovic, Benito Cereno - Ein moderner Mythos, in: Epirrhosis, Festgabe für Carl Schmitt Bd. 1, S. 20
  • 7) Günter Maschke, aaO (5), S. 243
  • 8) Uwe Steffen, Drachenkampf. Der Mythos vom Bösen 1984, S. 123 f. von Pietro Bandini, Drachenwelt. Von den Geistern der Schöpfung und Zerstörung 1996, S. 18 f Wird der "biblische Drachenhimmel " wie es dort heißt, viel heiterer gefüllt. Eine Warnung: nach Hobbes sind Metaphern in der politischen Philosophie "wie Irrlichter und sie dem Denken zugrunde legen heißt durch eine Unzahl von Widersinnigkeiten wandern, und an ihrem Ende stehen Streit und Aufruhr oder Ungehorsam" - zit. Nach Bodo von Greiff, Das neue Titelbild - 15 Jahre Leviathan in: Leviathan, Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1987, 1
  • 9) Kuno Füssel, Im Zeichen des Monstrums. Zur Staatskritik der Johannes - Apokalypse 1986, S. 76
  • 10) Vgl. i.e. zum Engel Satan(El) als Sohn Gottes: Dagmar Scherf, Der Teufel und das Weib 1990 sowie Bandini, (8), S. 28 f
  • 11) Ludwig Rohner, Der Kampf mit dem Drachen. Eine mythologische Studie 1989, S.52, spricht von polymorph, polyphibisch und polyvalent
  • 12) Oswald Loretz, Ugarit und die Bibel. Kanaanäische Götter und Religion im Alten Testament 1989, S. 92 f; Christoph Uehlinger, Drachen und Drachenkämpfe im alten vorderen Orient und in der Bibel, in: Drachenspuren, Hrsg Bernd Schmelz und Rüdiger Vossen, S. 71 ff
  • 13) C. G. Jung, Psychologie und Alchemie, 5. Aufl. 1987, S. 127; Alexander Roob, Alchemie & Mystik 1996, S. 400 ff; Hans Egli, Das Schlangensymbol, 2. Aufl. 1985
  • 14) zit. nach Oswald Loretz (12), S. 92
  • 15) zit. nach Carl Schmitt (5), S. 36
  • 16) (12), S. 77
  • 17) Lutz Röhrich, Artikel Drache, Drachenkampf, Drachentöter in: Enzyklopädie des Märchens, Hrsg. Kurt Ranke, 1977 ff
  • 18) Arnulf von Heyl, Fantasy - Drachen in: Drachenspuren (12), S. 189 ff, 192
  • 19) Robert von Ranke - Graves, Raphael Patai, Hebräische Mythologie, 1986, S. 58
  • 20) vgl. Gilles Deleuze, Felix Guattari, Rhizom 1977 21) Carl Schmitt (5), S. 11 m.w.N. vor allem im Anschluß an Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit 1895
  • 22) Arnulf von Heyl, Lilith - die erste Frau Adams in: Drachenspuren (12), S. 102 ff
  • 23) zit. nach Carl Schmitt (5), S. 16
  • 24) Uwe Steffen, (8), S. 139 Martin Warnke, Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image 1994, S. 57 mit zahlreichen weietern Bildhinweisen
  • 25) (5), S. 17 und 120
  • 26) Jürgen Ebach, Apokalypse. Zum Untergang einer Stimmung: Einwürfe 1986; vgl. John Briggs/F. David Peat, Die Entdeckung des Chaos 1990, S. 23.
  • 27) Ilya Prigogine, Vom Sein zum Werden, 5. Aufl. 1988, 104, 119 und passim
  • 28) (19), S. 57
  • 29) Kuno Füssel (9), S. 73
  • 30) Alexander und Edith Tollmann, Und die Sintflut gab es doch. Vom Mythos zur historischen Wahrheit 1995. Sie erklären mit ihrem Ansatz (S. 471) den von Gunkel (21) festgestellten Widerspruch, daß Leviathan einerseits ein feuerspeiendes Ungetüm, andererseits ein Wasserungeheuer sein soll und daß er zwar von oben herabkommend Vernichtung und Zerstörung bringt, trotzdem aber in die Tiefe hinabsteigt und dort das Meer wie einen Topf zum Sieden, wie einen Salbenkessel zum Kochen bringt.
  • 31) Franz Vonessen, Die Herrschaft des Leviathan 1978, S. 117 f, 120
  • 32) Reinhard Brandt, Das Titelbild des Leviathan in: Leviathan - Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1987, S. 163 ff, 174 m.w.N.
  • 33) (19) S. 58
  • 34) (19, S. 58 f m.w.N. Baruck, Baba Bathra u.a.
  • 35) Heinrich Heine, Romanzero, Drittes Buch, Hebräische Melodien, Disputation, Vers 293 ff
  • 36) Carl Schmitt, Land und Meer, neue Aufl. 1954, S. 8
  • 37) José Saramago, Das Evangelium nach Jesus Christus 1993, S. 420
  • 38) Kuno Füssel (9), S. 72
  • 39) (5), S. 31
  • 40) (32) und ders., Das Titelbild des Leviathan und Goyas El Gigante in: Udo Bembach/Klaus M. Kodalle (Hrsg), Furcht und Freiheit. Leviathan - Diskussion 300 Jahre nach Hobbes 1982
  • 41) Bernard Willms, Die Zeit der Supermächte läuft unwiderruflich ab. Leviathan kontra Naturzustand in: Die Welt vom 2.4.1988; vgl. ders., Die Antwort des Leviathan - Th. Hobbes Politische Theorie 1970; ders., Der Leviathan und die delischen Taucher. Zur Entwicklung der Hobbes - Forschung seit 1979 in: Der Staat 1988, 569 ff
  • 42) Nietzsche beschreibt ihn im Zarathustra "Vom Neuen Götzen" so
  • 43) Dietrich Braun, Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth. Erwägungen zu Ort, Bedeutung und Funktion der Lehre von der Königsherrschaft Christi in Thomas Hobbes' "Leviathan" 1963
  • 44) Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 - 1944 (Hrsg. G. Schäfer) 1977; vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, 9. Aufl. 1987, S. 1019 ff, 1024
  • 45) Leviathan oder Rabbinen und Juden, vom Verfasser des Behemoth 1901, S. 198. Die Untreue Liliths wird so erklärt (S. 62): "und da der Herr Gemahl Walfisch immer zu Hause im Meere blieb und nie in die Luft flog, oder auf festem Land spazieren ging, so konnte sie es ohne Gefahr, ohne eine Überraschung von seiner Seite fürchten zu müssen, geradezu wagen."
  • 46) Arnulf v. Heyl, Lilith - Die erste Eva in: Drachenspuren (12), S. 102 ff
  • 47) Herman Melville, Moby Dick 1944, S. 6 (vor Kapitel I). Zur Wirkungsgeschichte mit zahlreichen Nachweisen Christoph Egger, Leviathan - gejagt und konserviert. Wal und Walfang in der Literatur in: Neue Zürcher Zeitung vom 19.1.1990
  • 48) (47), S. 319
  • 49) vgl. Killerwal Keiko aus den "Free - Willy" - Filmen
  • 50) Stefan Aust, Der Baader - Meinhof - Komplex 1989, S. 274 ff; mit den Decknamen aus Moby Dick verständigten sich die Gefangenen im Frühjahr 1973 durch ein neu aufgebautes Informationssystem. Andreas Baaders Zelle hieß die "Kajüte".
  • 51) Dea Loher, Leviathan, besprochen von Werner Schulze-Reimpell im Artikel "Der Zwang in der Gruppe", Frankfurter Rundschau vom 13.10.1993
  • 52) Paul Auster, Leviathan, New York 1992, S. 142
  • 53) Arno Schmidt, Leviathan oder die Beste der Welten in: Leviathan 1963, S. 43 ff, 70, 80. Es handelt sich um einen tagebuchartigen Bericht zum 14.2.1945, es ist Arno Schmidts erstes Buch
  • 54) Robert Shea und Robert R. Wilson, Illuminatus! Bd. 1 Das Auge der Pyramide, Bd. 2 Der Goldene Apfel, Bd. 3 Leviathan, 1977 ff (amerik.1975) - das Zitat stammt aus der Neuausgabe von Bd. 1 1997, S, 175
  • 55) Joseph Roth, Der Leviathan, in dem gleichnamigen Erzählungsband 1976, S.168 ff, 196. Lakatos, der Händler mit falschen Korallen, ist in der Deutung von Hermann Kesten der Vetter Satans (S. 205). Zur zitierten Schlußzeile paßt auch die aus seinem Hiob - Roman eines einfachen Mannes 1969. Zu Hitler schreibt Roth in: Die Österreichische Post (=Exilzeitung) am 1.5.1939: "Wäre ich ungläubig, ich sagte: er müsse vertilgt werden. Aber ich darf es nicht, ich kann es auch nicht. Er ist uns auferlegt worden: Die Geißel Gottes. Jeder seiner Schritte ist Fluch. Jedes seiner Worte ist eine Schlange. Geplagt ist er selbst, wie alle seinesgleichen, und vielleicht ist er mehr geplagt als wir, die er plagt. Er muß; er kann nicht anders. Er hat das Antlitz einer banalen Meduse und einen panoptikalen Basiliskenblick. Wer ihn sieht, wählt ihn." Daß Leviathan bei Sammelwerken (vgl. 31, 53) und Zeitschriften titelgebend wirkt, bezeugt seine Vitalität.