LILITH - DIE ERSTE FRAU ADAMS

Arnulf v. Heyl

In: Bernd Schmelz / Rüdiger Vossen, Auf Drachenspuren 1995, S. 102 ff

 

Lilith ist ein Ungeheuer besonderer Art, das als männermordender und kinderfressender Dämon, aber auch als frauenschützende Fee die Spannweite der möglichen Gut/Böse-Vertauschungen ausschöpft. Lilith ist nicht nur eine unsterbliche Halbgöttin, die sich vor dem Sündenfall selbständig gemacht hat, sondern auch eine Halbdrachin, die in enger Beziehung zu den Chaosdrachinnen der Urzeit (Tiamat) und der Endzeit (Drachin der Offenbarung ) steht. Sie ist die Schlange des Paradieses. Ihre Gestalt verdankt sie der hebräischen Mythologie, vor allem dem Buch Sohar, dem Hauptwerk der Kabbala.1

Wenn ein "Verein für ein Leben frei von sexuellem Mißbrauch und Gewalt für Mädchen und Frauen" 1992 Lilith genannt wird 2und im Musical mit Peter Maffay 1994 der Drache Tabaluga von der Fee Lilli gerettet wird, dann wird die Vitalität der alten Bilder deutlich.

Als Lucas Cranach 1522 der Schlange des Paradieses die Gestalt der Lilith gab, war deren Identität dem gebildeten Durchschnittsbetrachter so vertraut, daß sie nicht erklärt werden mußte, und Luther wußte, was er tat, als er ihren Namen bei der Bibelübersetzung tilgte 3, wohl um so die Verbindung mit der nebenbiblischen Tradition zu lösen. Die heutigen Gebildeten kennen Lilith durch den Dialog in der Walpurgisnacht 4:

Faust:
Wer ist denn das?
Mephisto:
Betrachte sie genau! Lilith ist das
Faust:
Wer?
Mephisto:
Adams erste Frau
Nimm dich in acht vor ihren schönen Haaren,
Vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt;
Wenn sie damit den jungen Mann erlangt,
So läßt sie ihn sobald nicht wieder fahren

Und durch den daran angelehntetn Dialog von Castorp und Settembrini im Zauberberg5

Irmgard Roebling unterscheidet vier ideengeschichtliche Phasen/Aspekte der Lilith-Tradition6:

  1. hochsexualisierte ambivalente Muttergottheit sumerisch - babylonischer Herkunft
  2. böser würgender und männerverführender Dämon in der jüdisch - mosaischen Kultur
  3. erste Frau Adams in den nebenbiblischen Schriften der Kabbala
  4. die "Rehabilitierung" der Lilith in der Dichtung des 19. Jahrhunderts und, damit zusammenhängend, ihre Entdeckung durch die Frauenbewegung

Diese Aufzählung ist nicht komplett, zu ergänzen sind:

  • die anima der C.G. Jung - Schule7
  • die Revitalisierung einer "metafeministischen" Lilith in der Fantasy, die wie vergleichbare andere mythologische Bilder in den Bereichen Tattoo und Motorradkultur fortwirkt.

Wo läßt sich in diesem sich wandelnden Mythenstrom die Drachennatur Liliths ausmachen? Drachen sind Hybridwesen, zusammengesetzte Ungeheuer, in deren Gestalt z.B. Löwe und Adler oder Stier und Löwe oder Schlange und Adler verbunden werden. Die Einengung auf das Reptil- oder (heutzutage) Saurierimago ist neueren Datums, so hat der "Transport"-Drache Geryon in Dantes Göttlicher Komödie noch wie selbstverständlich einen Löwenkörper mit Menschenkopf. Die Gleichsetzung Liliths mit der Schlange des Paradieses hat ihren Beitrag zu dieser Einengung geleistet. In den biblischen Mythen reicht die Spanne noch weit, wie der Gegensatz der zusammengesetzten Ungeheuer Leviathan und Behemoth zeigt. Die ägyptischen und babylonischen Wurzeln dieser Bildtradition sind offenkundig. Auch die Drachen der griechischen Mythologie, die zusammen mit dem christlich-jüdischen Strang unsere Kultur geprägt haben, zeigen diese Vielfalt, etwa die zahllosen Drachen der verschiedenen zu einem Geflecht verbundenen Herakles-Sagen.

Lilith ist ein Drache, weil sie ein solches Hybridwesen ist, wobei die eingangs gewählte Bezeichnung Halbdrachin darauf hinweise, daß sie gewissermaßen eine "Drachin hoch zwei" ist, mit einer Rückbezüglichkeit, die gut zu ihrer autistischen Komponente paßt. In Klammern: mit feinem Gespür nennt die männerlose "autistische" Variante der feministischen Szene ihre Buchhandlungen und Cafés mit Vorliebe Lilith.

Terrakottarelief Sumer, etwa 2000 vuZ aus: Erich Neumann,
Die große Mutter, 9. Aufl 1989

Die sumerische Skulptur der Lilith, die für Siegmund Hurwitz: "Lilith. Die erste Eva", aber auch erweiternd für Erich Neumann: "Die große Mutter"8 das Titelbild gab, zeigt sie als Hybridwesen Eule/Frau, als positive Figur. Ihre Verwandtschaft oder gar Identität mit der sumerischen Sturmgöttin LILLA ist plausibel9. Als Göttin/Dämonin konnte und kann sie natürlich fliegen, eine Eigenschaft, die sie auch als Fee Melusine10 - nicht alle Feen können fliegen - beibehalten hat. Die Flügel, die später mal zu Engelsflügeln, mal zu Teufelsflügeln werden, unterstützen diese Botschaft. Festzuhalten ist, daß die Flugfähigkeit flügelunabhängig ist. Erst die Moderne erwartet flugtechnische Plausibilität und noch die ersten Darstellungen Geryons zeigen diesen stets flügellos11.


Boris Vallejo, Mirage 1983

Chris Achilleos, Beauty and the Beast, 4. Ed. 1987

Die Postmoderne der Fantasy steht wieder in dieser ikonographischen Tradition, wenn zwar Boris Vallejo Lilith Flügel gibt, Chris Achilleos jedoch ganz selbstverständlich nicht. Bei beiden Bilddokumenten hat sich zudem erhalten, wie wichtig Liliths nichtmenschliche Füße sind. Barbara Black Koltuv12 berichtet:

Die Königin von Saba vor Salomo. Aus dem "Jüngeren Bibelfenster" im Kölner Dom, um 1280 aus: Rolf Beyer, Die Königin von Saba, 2. Aufl. 1992 - man beachte die blaue Wasserfläche unter dem Thron

"Als Lilith, in ihrer Verkleidung als Königin von Saba, versuchte, ihn zu verführen, befahl Salomo, der das natürliche, instinkthafte Weibliche kannte, den Djinnen, einen Thronsaal mit einem gläsernen Fußboden zu bauen. Als die Königin von Saba (Lilith) den König sah, dachte sie bei sich, daß sein Thron auf dem Wasser steht, und sie hob ihre Gewänder, um das Wasser zu überqueren und sich ihm zu nähern. Auf diese Weise wurden ihre haarigen Nbeine enthüllt, die ihren naturhaft-tierischen Ursprung offenbarten."

So ist es gar nicht weit hergeholt, die fehlenden Füße der Schlange als versteckte Füße zu deuten, die man sich mit Heinrich Heine13 blaubestrumpft imaginieren kann:

"Es stehen überhaupt noch viel schöne und merkwürdige Erzählungen in der Bibel, die ihrer Beachtung wert wären, z.B. gleich am Anfang die Geschichte von dem verbotenen Baume im Paradiese und von der Schlange, der kleinen Privatdozentin, die schon sechstausend Jahre vor Hegels Geburt die ganze Hegelsche Philosophie vortrug. Dieser Blaustrumpf ohne Füße zeigt sehr scharfsinnig, wie das Absolute in der Identität von Sein und Wissen besteht, wie der Mensch zum Gott werde durch die Erkenntnis, oder was dasselbe ist, wie Gott im Menschen zum Bewußtsein seiner selbst gelange."

Zurück zu Lilith als Hybridwesen! Dies betrifft nicht nur ihre äußeren Attribute, sondern auch ihre Identität. Drachen, diese Meister der Metamorphose, behüten als gefallene Engel die unauflösliche Gut/Böse - Verschränkung als prima materia der Aschemie die hermaphroditische Uridentität des Männlich/Weiblichen. Zumindest das erste Gegensatzpaar vereinigt sich auch in Lilith.

Die Dämonisierung älterer Gottheiten bei Religionsüberlagerungen ist ein vertrauter Vorgang, wenn eine Integration, vergleichbar der Fruchtbarkeitsgöttin Ostara zu Ostern, nicht möglich ist. Wenn es aber gelingt, sich mit einem solchen mächtigen Dämon, gegen den nur spezielle Amulette helfen, zu verbinden, dann kann daraus eine neue Qualität des Positiven entstehen. Zur Abbildung, die die Schwesterlichkeit von Eva und Lilith zeigt, paßt die Version von Judith Plaskow14:

Lilith9

Lilith und Eva - flämisch spätes 15. J. aus: Barbara Black Koltuv, Das Geheimnis Lilith 1988

"They taught each other many things, and told each other stories, and laughed together, and cried, over and over, till the bond of sisterhood grew between them. And God and Adam were expectant and afraid the day Eve and Lilith returned to the garden, bursting with possibilities, ready to rebuild it together."

Der Nachteil dieser neuen Sicht ist, wie das Bild gut zeigt, daß der eine Apfel der Erkenntnis durch die vielen Äpfel der Erkenntnisse abgelöst wird.

Dagmar Scherf hat gezeigt15, daß bei der Verdrängung älterer durch jüngere Gottheiten die älteren oft durch Schlangen und Drachen verbildlicht und weiblich bzw. androgyn gesehen werden. In diesem Zusammenhang ist zu repetieren, wieso Lilith die erste Frau Adams ist. In der Genesis wird zunächst berichtet, daß Gott nach seinem Bild einen Mann und ein Weib schuf (1. Mose 1, 27) und erst im nächsten Kapitel, daß er Adam und aus dessen Rippe Eva schuf. Der erste Bericht stützte die gnostische Version der Mannweiblichkeit Gottes, die in der jüdischen und christlichen Mystik revitalisiert wurde: die Gottesgesamtheit Elohim wird gebildet durch Jahwe und seine weibliche Ergänzung Schechina16. Auch wenn textkritisch belegt ist, daß der 2. Bericht der historisch ältere ist,wurde in diese Abfolge dann hineinprojiziert, daß Adam zwei Partnerinnen hatte. Lilith bestand auf ihrer Gleichrangigkeit und verließ ihn, als er sie zwingen wollte, in der sexuellen Vereinigung unten zu liegen und zu unterliegen. Sie hat am Sündenfall nicht teilgenommen und nach jüdischer nebenbiblischer Tradition mit Gott einen Spezialpakt geschlossen, der ihr erlaubt, Neugeboreene zu rauben - dies heißt in einer Version, sie vor der Sterblichkeit zu bewahren, soviel Schrecken sie damit auch verbreitet.

Zu ihrer Doppelrolle als anima des Mannes (der in Drachenkämpfen sich selbst besiegen muß, um die gefangene Jungfrau als Teil seiner selbst zu befreien) und als animus der Frau (der ihr zeigt, welche ungeheuren Kräfte eines Ungeheuers in ihr stecken) kommt Lilith durch die Verschmelzung mit der Schlange des Paradieses.

Die sich häutende Schlange steht für Unsterblichkeit und ewige Jugend und als Hüterin der Erkenntnis auch für Weisheit. Die Schlange, deren Anbetung Moses Gebot war17, wurde Gottes Konkurrentin, nachdem er sich ihren Garten erobert hatte. Die Gut/Böse - Vertauschung der Schlange erfolgte, weil (und solange) die Schlange der Sterblichkeit unterlag.

Diese Verschmelzung erfolgt durch eine parallele Verteufelung Liliths und der Schlange. So heißt es, daß Lilith, nachdem sie Adam verlassen hatte, von einem blinden Drachen mit Samael, dem Teufel, vermählt wurde. "Und er (der blinde Drache), ist kastriert, so daß er nicht zeugen kann, damit nicht (seine Nachkommen) die Welt vernichten. Der blinde Drache reitet Lilith, die sündige"18. Der Drache reitet Lilith, nicht umgekehrt! Ihr wird die Umkehrung der Gewohnheiten vorgeworfen. Lilith ist nicht kastriert und gebiert zahllose weitere Ungeheuer, so soll z.B. der Drache von Avignon aus einer Verbindung mit Leviathan hervorgegangen sein. In anderen Überlieferungen wiederum ist sie selbst des Teufels Großmutter, so in einem Drama der Päpstin Johanna.19

Da der Saturn bekanntlich von einem Drachenwagen gezogen wird, ist es nicht verwunderlich, daß Lilith in der Astrologie eine Verbindung mit Saturn eingeht und damit auch eine Beziehung zur Melancholie hat.20

Lilith, die einerseits die Ahnin Lulus ist, gilt nach Joelle de Gravelaine, die auf die von ihr jedoch nicht belegte21 jüdische Ikonographie verweist, andererseits als Vertreterin einer geistigen Sexualität - danach trägt sie die Vagina auf der Stirn. Einem Ungeheuer ist vieles möglich.

In ihrer Wirkungsgeschichte zeigt Lilith Vitalität in Werken von Viktor Hugo, Oscar Wilde, Isolde Kurz, Paul Valery, Bernard Shaw, Anais Nin, Jean Plaidy, Ingeborg Bachmann und einer Fülle feministischer Literatur. Besonders hervorzuheben ist die Auseinandersetzung von Sara Maitland mit Lilith, die in "Three Times Table" Saurier und Drachen einsetzt, die die Selbstfindung der Frauen im Generationenzusammenhang begleiten.22

Vielleicht hängt diese Vitalität Liliths damit zusammen, daß sie auch früh schon Schwächen zeigen konnte. Dies lehrt die anrührende Geschichte der Fee Melusine, die als Halbdrachin ihre Kinder liebt und doch nicht schützen kann, weil ihr Mann das Geheimnis ihrer wechselnden Gestalt nicht wahren/ertragen kann.